Weinheim: Ein Paradies in Pastell

St. Marien aus den Sechziger Jahren wurde modern ausgemalt. Jetzt schwebt die Kirche.  

Das Gefühl erinnert ein bisschen an Heiligabend. Damals, als man noch Kind war. Man steht vor der geschlossenen Tür einer schlichten Kirche aus den Sechziger Jahren. Backstein, Beton, ein Campanile – zu Tausenden wurden solche Gotteshäuser nach dem Krieg gebaut. Langsam drückt man die Klinke hinunter, das Tor öffnet sich und man betritt ein Paradies in Pastell.

An der riesigen Decke tobt ein Sonnensturm, in dem blaue Wolkenschiffchen segeln. Die Farben umschlingen einander, spielen, hüpfen, springen, tanzen, bis sie sich schließlich hinter dem Altar in einem Himmelswirbel vereinen. Dazwischen glühen rote Funken. Die Liebe? Der Heilige Geist? Wer weiß. Ein Ausflug in die neugestaltete Kirche St. Marien in Weinheim.

Eine Herausforderung: Die Decke misst mehr als 45 Meter.

Die Weinheimer Weststadt wurde nach dem Krieg in einem Rutsch aus dem Boden gestampft.

Die Weststadt ist das größte Wohngebiet Weinheims. Und eines der jüngsten. Rund 18000 Menschen leben hier, viele in Hochhäusern. Es gibt aber auch schicke Bungalows und Häuschen mit Garten. Der gesamte Stadtteil wurde nach dem Zweiten Weltkrieg quasi in einem Rutsch aus dem Boden gestampft.

Um all die Ausgebombten und Flüchtlinge zu beherbergen, die in langen Schlangen an die Bergstraße strömten. Weil es hier warm war und Arbeit gab. Nur die Wohnungen fehlten. In Windeseile verschwanden daher die Obstbäume und die Wiesen, die Weinheim bisher von der Autobahn abgeschirmt hatten. Ihre Aufgabe übernahm jetzt die neue Weststadt. 

Trotz ihrer Größe besitzt St. Marien ein zart, fast filigrane Ausstrahlung.

Der Turm von St. Marien gilt heute als zum Wahrzeichen der Weinheimer Weststadt.

Das Herzstück des Neubauviertels war die Kirche St. Marien, geweiht 1955. Auf alten Fotos sieht man sie mutterseelenallein auf weiter Flur. Das hat sich inzwischen geändert. Nur ihr großer Kirchplatz verschafft ihr heute noch Luft. St. Marien war für eine riesige Gemeinde konzipiert. Der Krieg hatte die Menschen fromm gemacht. Niemand ahnte damals, dass der lange Frieden das Gegenteil bewirken würde. 

Trotz ihrer Größe besitzt St. Marien eine zarte, fast filigrane Ausstrahlung. Diese leichte Eleganz passt nicht nur perfekt zum Patrozinium der Muttergottes, sie ist auch bei Architekten gerade sehr en vogue. So wie die schlanken Möbel aus den Sechzigern, die jetzt alle wieder haben wollen. Um sie mit Design aus dem 21. Jahrhundert zu kombinieren.

Die „Himmelskönigin“ hüllte der Künstler in transzendentes Blau.

Seit Jahrzehnten verwandelt Tobias Kammerer weiße Kirchenräume in schillernde Paradiesgärten.

Genau das tut auch Tobias Kammerer. Der abstrakte Künstler aus Rottweil hat sich auf farbige Wandfassungen in Kirchen spezialisiert. Mit großem Erfolg. Seit Jahrzehnten verwandelt Kammerer weiße Kirchenräume in schillernde Paradiesgärten. Der Schwarzwälder knüpft damit an eine uralte Tradition an: In der Romanik und in der Gotik waren Kirchenwände immer farbig gefasst. Der Barock hat sogar die Decke in den Himmel hinein geöffnet. Erst die Moderne hat Weiß zum Programm erhoben.

Mehr als 45 Meter misst die Decke in St. Marien. Das ist richtig lang. Bis vor kurzem war sie zudem noch mit dunklem Holz verkleidet. Ein optisches Zentnergewicht, das auf der Kirche lastete. Seit es verschwunden ist, schwebt die Marienkirche. Aquarellhaft, sphärisch, traumverloren. Selbst das schwere alte Kreuz, das im Chor hängt, scheint nun in den Himmel hinaufzusteigen. 

Maria, die „Himmelskönigin“ und Hausherrin, hüllte der Künstler in transzendentes Blau. Die Farbe der Ferne, die Tiefe, der Treue. Wie dunkel die Wolken auch sein mögen, das Blau des Himmels kehrt irgendwann immer zurück.

Die 15. Kreuzwegstation: Maria Magdalena trifft den Auferstandenen.

Der schweigsame Josef hingegen erstrahlt in Rot. Das erstaunt. Rot ist die stärkste Farbe. Sie symbolisiert Mut, Leidenschaft und Feuer.

Der alte Kreuzweg schließlich hat eine 15. Station hinzubekommen. Sie zeigt die Begegnung des Auferstandenen mit Maria Magdalena auf dem Friedhof. Seine große Männerhand mit dem Wundmahl umfasst schützend ihre kleine Frauenhand. Den Kreuzweg hat Kammerer mit einem silbernen Band hinterlegt. Silber ist die Farbe der Erneuerung und der Kometen. Sie weist den Menschen den Weg. So wie der Stern von Bethlehem.

Kirchenfakten
Name: St. Marien
Adresse:  Forlenweg 2, 69469 Weinheim
Konfession:  katholisch 
Baujahr:  1955
Baustil: Moderne
Kunstschätze:
– Moderne Wandfassungen von Tobias Kammerer (2022)
– Moderne Chorfenster, Fahnen und Kreuzweg-Gestaltung von Tobias Kammerer (2022)
– Figuren von Emil Sutor (1955)
– Orgel von Michael Weise (1963)
– Westportal und Prinzipalien von Georg Günther Zeuner (1963)
– Fensterzyklus „Marienkrönung“ von Jupp Gesing über der Westempore
Öffnungszeiten: tagsüber geöffnet (Seitenportal)
Kontakt: Pfarrbüro St. Marien, Forlenweg 2, 69469 Weinheim
Telefon: 06201-13340
E-Mail: stmarien@se-wh.de
Internet: www.kath-weinheim-hirschberg.de

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