Wiesloch: Der verlorene Sohn von Baiertal

St. Gallus in Baiertal kombiniert Barock mit Moderne

Im Bahnhofsklo liegt ein junger Mann. Vollgepumpt mit Drogen. Verdreckt, zerstört, fertig. Die Augen blicken leer, das Hemd hängt in Fetzen, die Füße starren vor Dreck. Was sich anhört wie eine Szene aus dem Rauschgiftmilieu, ist in Wahrheit ein Ausschnitt aus dem Deckenfresko in der katholischen Kirche von Wiesloch-Baiertal.

St. Gallus wagt eine Grenzüberschreitung, die in der Region einmalig ist: Zum eleganten barocken Hochaltar kombinieren die Baiertaler ein Deckengemälde, das die biblische Geschichte vom verlorenen Sohn in die Moderne übersetzt. Inklusive Wolkenkratzer, Punks und Atomkraftwerke. Zu Besuch in der vielleicht mutigsten Kirche der Region. 

Zwei Jahrhunderte lang haben sich die Katholiken und Protestanten ein Kirchlein geteilt.

Der Kraichgau ist eine entspannte Landschaft. In steten Wellen folgt Hügel auf Hügel. Der Lößboden ist fruchtbar, das Land voll von Licht und Wärme. In Baiertal hat man früher Hanf und Tabak angebaut. Heute wird hier vorwiegend gewohnt. Wiesloch und die Autobahn sind nah. Heidelberg ist nicht fern. 

Die neubarocke Basilika steht weithin sichtbar über dem Dorf

Die katholische Kirche St. Gallus steht weithin sichtbar auf einem Hügel über dem Dorf. Ein eleganter zweiläufiger Treppenaufgang führt hinauf zu einem Gotteshaus, das auf den ersten Blick wie eine barocke Basilika aussieht.

Doch St. Gallus ist Neubarock, erbaut erst 1912. In den zwei Jahrhunderten zuvor haben sich Katholiken und Protestanten ein Kirchlein geteilt. Drunten beim alten Friedhof. 

Woher der wunderbare barocke Hochaltar stammt, weiß niemand.

Betritt man die „neue“ Baiertaler Kirche, so steht man in einem ist ein weiten, lichten Gotteshaus. Der wunderbare barocke Hochaltar zierte schon das Friedhofskirchlein. Woher er stammt, weiß niemand. Die beiden Seitenaltäre sind jünger. Wahrscheinlich wurden sie speziell für diesen Raum angefertigt. St. Gallus ist eine sehr schöne Kirche, aber sie wurde leider nicht aus bestem Material erbaut. 1968 drohte der Turm einzustürzen. 1976 musste der gesamte Innenraum saniert werden. Fünf Jahre später entdeckte man wieder feuchte Flecken. 

Das opulente Deckenfresko interpretiert das „Gleichnis vom Verlorenen Sohn“ als Bild …

Damit war das Vermögen der Gemeinde aufgebraucht. Das Geld reichte nicht einmal mehr für die Stuckierung des Chorbogens. Er stand bloß, als der Avantgarde-Künstler Reinhard Daßler erstmals die Kirche betrat. „Dabei zählt der Chorbogen zu den architektonischen Höhepunkten einer Kirche“, notierte der Maler aus Karlsruhe entsetzt. 

Die Decke der Kirche sollte sich in einen offenen Himmel verwandeln – wie man das in Barockkirchen immer sieht.

Daßler war auf Einladung des damaligen Baiertaler Pfarrers Erhard Behl in den Kraichgau gereist. Der Seelsorger nämlich hatte einen Traum: Die weiße Decke „seiner“ Kirche sollte sich durch ein monumentales Gemälde in einen offenen Himmel verwandeln. So wie man das in Barockkirchen immer sieht.

… für die Zerstörung der Erde durch den Menschen

Der Maler war begeistert, schlug aber nur unter der Bedingung ein, dass er seinem Stil treu bleiben durfte. Statt niedlicher Putten sollte die Gefährdung der Erde durch den Menschen zu sehen sein. Im barockem Stil. Plastisch, mit Perspektive, Licht und Schatten. Und den Chorbogen würde er dann gleich auch noch bemalen. 

Im Hintergrund stehen der Pfarrer und der Maler. Sie lächeln.

Das Fresko erzählt das Gleichnis vom verlorenen Sohn aus dem Lukasevangelium. Der vielgeliebte Erbe verabschiedet sich vom Haus seines reichen Vaters, um sich auszuprobieren. Draußen in der Welt. Er isst, trinkt, tanzt, hat Spaß. Er geht zu Prostituierten, wird Punk, nimmt Drogen. Die Welt verdüstert sich. Seelenlose Wolkenkratzer wachsen in den Himmel, Giftmüll schwimmt im Wasser, am Horizont explodiert eine Atombombe.

Kurz vor dem Zusammenbruch kriecht der Sohn zurück zum Vaterhaus. Man sieht die Hügel des Kraichgaus, voll von Licht und Wärme. Vor der Kirche von Baiertal eilt der Vater dem Sohn entgegen. Im Hintergrund stehen Pfarrer Behl und der Maler. Sie lächeln.

Kirchenfakten
Name: St. Gallus
Adresse: Wieslocher Str. 12, 69168 Wiesloch 
Konfession: katholisch
Baujahr: 1912
Baustil: Neubarock
Kunstschätze:
– Barocker Hochaltar aus dem 17. Jahrhundert mit einem neubarocken Altargemälde des Kunstmalers Duchow 
– Neubarocke Seitenaltäre, Kanzel, Beichtstuhl und Taufstein von August Allert
– Neubarocke Putten und Engel des Holzbildhauers Josef Schütz
– Moderne Orgel der Firma Heissler aus Bad Mergentheim (1977) mit zwei Manualen und 16 klingenden Registern 
– Monumentales avantgardistische Deckengemälde von Reinhard Daßler (1988)
Öffnungszeiten:  tagsüber geöffnet
Kontakt: 
Katholisch Pfarrgemeinde St. Gallus, Wieslocher Str. 14, 69168 Wiesloch-Baiertal
Telefon: 06222-71157 oder 06222-770010
E-Mailst.gallus@kath-wiedie.de
Internet: www.kath-wiedie.de

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