Heidelberg-Boxberg: Avantgarde am Hang

Eine Gotteshöhle aus Sichtbeton: Die katholische Kirche St. Paul aus dem Jahr 1972

Die schwere Tür fällt ins Schloss, und man steht in absoluter Dunkelheit. Kein Fenster, kein Licht. Nirgends. Trotzdem geht’s weiter. Fünf Schritte, sechs. Vorsichtig. Tastend. Dann plötzlich eine radikale Linkskurve. Die Welt wird wieder hell, der Blick weitet sich. Hinein in ein riesiges Amphitheater aus Beton, das beleuchtet wird nur durch indirektes Licht von oben.

Schlanke Bänke formen einen Halbkreis, flache Stufen führen strahlenförmig hinab zum Altar. Er ist das Zentrum des Raums, der Mittelpunkt des Universums. So geht St. Paul. Die katholische Kirche auf dem Boxberg ist mit Abstand das avantgardistischste Gotteshaus Heidelbergs. Stararchitekt Lothar Götz hat es entworfen. 1972. Vor genau 50 Jahren. 

St. Paul ist ein stilles, abgeschirmtes Gebetsrefugium jenseits der hektischen Welt.

Ein Holzgeflecht unter der Decke komponiert immer neue Lichtspiele

Der Boxberg ist kein organisch gewachsener Stadtteil, sondern eine Siedlung vom Reißbrett. Im April 1960 verabschiedete der Heidelberger Gemeinderat den Bebauungsplan für eine neue „Waldparksiedlung“ in rund 250 Metern Höhe am Westhang des Königsstuhls. Bislang hatten die Rohrbacher Bauern hier ihre  Kühe und Ziegen geweidet.

1969 waren Wohnungen für mehr als 6000 Menschen fertiggestellt. Nun war die Seele an der Reihe. Ein Architektenwettbewerb wurde ausgeschrieben für ein katholisches Gemeindezentrum mit Kirche, Kindergarten, Jugendräumen und Pfarrwohnung. Der renommierte Architekturprofessor Lothar Götz aus Neuenheim hat ihn gewonnen.

Seine erste Idee, verriet Götz später, sei eine Kirche in der Form einer Pyramide gewesen. Ein runder Gottesdienstraum ohne Fenster, bekrönt von einem gewaltigen spitzen Glasdach. Ein direkter Draht zum Himmel sozusagen. Doch die schwierige Statik des Hanggrundstücks spielte bei dem Plan nicht mit. Weshalb Götz das genaue Gegenteil ersann: Eine Gotteshöhle. Ein stilles, abgeschirmtes Gebetsrefugium jenseits der hektischen Welt. 

Der Tabernakel ist eine ultramoderne Bronzeplastik

Der Kirchturm fehlt gänzlich. Der Gemeinde war die Orgel wichtiger.

Von außen wirkt St. Paul archaisch, spröde, fast abweisend. Ein quaderförmiger fensterloser Bau aus sorgfältig geschaltem Beton, der durch tiefe, senkrechte Nuten gegliedert wird. Die Rillen bergen ein Geheimnis: Sie liegen jeweils exakt 11 Zentimeter auseinander. Das entspricht der Zahl der Apostel, die Lothar Götz gelten ließ. Judas zu diesem Kreis zu zählen, hat der Architekt zeitlebens abgelehnt. 

Der umlaufende Dachkranz von St. Paul ist ungewöhnlich weit nach außen gekippt. Zum Schutz gegen den Straßenlärm. Ein Kirchturm fehlt gänzlich. Der Gemeinde war die hochwertige Orgel der Firma Schwarz mit ihren 1644 Pfeifen wichtiger. Für Orgel und Turm hat das Geld nicht gereicht. Erst 1992, als der Glauben zu verdunsten begann, haben die Katholiken vom Boxberg an der Nordecke ihrer Kirche ein großes Holzkreuz angeheftet. Um die Betonskulptur eindeutig als Gotteshaus zu kennzeichnen. 

Schon die Römer haben Sand mit Vulkanasche und Meerwasser gemischt. So entstand Beton.

„Brutalismus“ nennt man die Ära des Sichtbeton, die in den 1970er Jahren begann. Der Name hat nichts mit Gewalt zu tun, sondern er leitet sich her vom französischen „Béton brut“ – Sichtbeton. Er ist keine Erfindung der Neuzeit. Schon die Römer haben Sand mit Vulkanasche und Meerwasser gemischt, wodurch flüssiges „opus caementitium“ entstand. Getrocknet war es extrem stabil war.

Der Urzustand: Tanzende Schatten sollten als Raumschmuck genügen

Ende des 19. Jahrhunderts begannen die Ingenieure die Betonbauteile mit einem Eisen- und Stahl-Skeletten zu verstärken. Für die Bunker des ersten Weltkriegs. Nach dem zweiten Weltkrieg verfeinerten sie die Rezepturen mit Kunststoff-Fasern. In flüssigem Zustand war der Zement nun unbegrenzt formbar, getrocknet aber an Härte kaum zu überbieten. Der Traum jedes Architekten.

Den Geschmack der Gemeinde fand der Architekt „viel zu laut“.

Lothar Götz beschränkte sich beim Bau von St. Paul auf nur drei Materialien: Beton, Straßenpflaster und glänzendes Mahagoni-Holz. Der Gottesdienstraum ist eine hermetisch abgeschlossene und fensterlose Halle, die sich nur zum Himmel hin öffnet. Ein großformatiges Holzgeflecht unter der Decke komponiert sowohl mit natürlichem wie auch mit künstlichem Licht immer neue Schattenspiele.

Heute mildern Gemälde, Deckchen und Heiligenfiguren die Strenge der Kirche

Wäre es nur nach dem Architekten gegangen, hätten der Tanz der Schatten und die ultramoderne Bronzeplastik des Tabernakels als Raumschmuck ausgereicht. Weil aller weiterer Zierrat von der Begegnung mit Gott ablenkt.

Die Gemeinde auf dem Boxberg sah das anders. Um die Strenge ihrer Kirche zu mildern erstand sie einen Kreuzweg, eine modernes Triptychon, Heiligenfiguren, Topfpflanzen, religiöse Gemälde, Kerzen und Deckchen. Was schnell zu einer gewissen Entfremdung vom Architekten führte.  „Mit der Kunst hinter dem Altar bin ich überhaupt nicht einverstanden und habe mich deswegen mit dem damaligen Pfarrer mehr als gestritten“, schrieb Götz noch kurz vor seinem Tod in einem Brief. „Das alles ist mir viel zu laut.“

Ein glasklarer Raum, der nach Ernsthaftigkeit verlangt. Schwafeln fällt schwer in St. Paul.

Die runden Bankreihen greifen den Mahagoni-Ton der Deckenskulptur wieder auf. Der kompletten Innenraum ist mit Straßensteinen gepflastert. Sie formieren sich zu Wellen, zu Rundungen, zu immer neuen stillen Gebetsecken. Wie die „Werktagskirche“. Sie bietet Platz für kleine Gottesdienst oder das persönliche Gebet. Der Hauptaltar ist ebenfalls aus dem Fels gehauen, aus dem das Bodenpflaster stammt. Ein glasklarer Raum, der nach Ernsthaftigkeit und Wahrheit verlangt. Schwafeln fällt in St. Paul sehr schwer.

Star-Architekt Lothar Götz

500 Gläubige fassen die Bankreihen, die im Halbkreis aufsteigend angeordnet sind. Wie in einem Hörsaal. Oder wie in einem griechischen Forum. Der Altar bildet nicht den höchsten sondern am tiefsten Punkt des Raumes. Stünde dort unten plötzlich der Apostel Paulus und hielte eine seiner flammenden Reden, niemand wäre ernsthaft überrascht. So ist der Boxberg. 

Wahrscheinlich würde sich der Apostel in „seiner“ Kirche tatsächlich sehr wohl fühlen. Weil das ganze Ensemble von der Klarheit des Mittelmeerraums durchdrungen ist. Im zentralen schattigen Hof wachsen tief hängende Weiden und Mittelmeerpflanzen. Was ihm den Charakter eines parkartigen Atriums verleiht. Von den beiden großen überdachten Terrassen hat man einen weiten Blick über die Rheinebene hinweg. 

Alles geht in einander über in St. Paul. Verwoben, verbunden, verschachtelt.

Die Gemeinde- und Jugendräume sowie das Pfarrbüro umfassen den Park wie einen Edelstein. Eine Etage tiefer liegt der Kindergarten. Alles geht ineinander über in St. Paul. Verwoben, verbunden, verschachtelt. Böse Geister, so sagt man in Japan, können nicht um Ecken gehen.

Da war die katholische Welt noch heil: Erzbischof Schäufele bei der Kirchweihe

Am 28. Mai 1972 hat der Freiburger Erzbischof Hermann Schäufele die Kirche St. Paul auf dem Boxberg geweiht. Umgeben von einer unübersehbaren Menschenmenge. Zwanzig Jahre später begann der Sichtbeton zu bröckeln. Die Witterung. Die Umweltverschmutzung. 1992 mussten sowohl die Kirche wie auch die übrigen Gebäude grundlegend saniert werden. Die einst schalungsrauen Betonwände erhielten einen schützenden Anstrich. Vorbei war es mit ihrer prägnante Struktur. 

Auch die Gemeinde erodierte. Langsam aber stetig. Seit Corona zählt man am Sonntag kaum noch 50 Gläubige in der Messe. Einen eigenen Pfarrer haben die Katholiken auf dem Boxberg schon lange nicht mehr. Erst bildeten sie eine Seelsorgeeinheit mit Rohbach und Kirchheim. Seit 2005 gehört der Boxberg zur großen Stadtkirche Heidelberg.

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