Heidelberg ist die einzige Stadt der Welt, in der gleich drei Kirchen Künstlerfenster von Johannes Schreiter besitzen: Heiliggeist, die Peterskirche und die Kapelle in der Plöck. Unser Avantgarde-Spaziergang streift durch die Heidelberger Altstadt auf den Spuren des wichtigsten sakralen Glaskünstlers der Gegenwart.
Die Heiliggeistkirche ist der steingewordene Ostermorgen. An sonnigen Vormittagen geht von ihrem gotischen Chor ein geradezu magischer Sog aus. Da will man hin. Sich einhüllen lassen in Licht. Das Leuchten wird verstärkt durch den Kontrast zum schmalen, dunklen Langhaus. Eine eigenartige Architektur.
Sie erklärt sich aus der Geschichte des Gotteshauses: Heiliggeist war das Zuhause der ersten deutschen Universität, 1386 gegründet. Auf den breiten Emporen im Kirchenschiff stand die Bibliotheca Palatina, die größte Bibliothek der Welt. Im Dreißigjährigen Krieg wurden die Handschriften geraubt und in den Vatikan gebracht, wo sie sich heute noch befinden. Mit dem Verlust der Palatina beginnt unser Abenteuer Avantgarde.
Station 1: Die Heiliggeistkirche am Marktplatz
Heidelberg im Jahr 1981. Eine Stadt in Aufregung. Der 600. Gründungstag der Universität rückte näher, etwas Sensationelles musste her. Der Blick fiel auf die notverglasten Fenster der Heiliggeistkirche. Was, wenn man einen modernen Fensterzyklus in Auftrag gäbe? Johannes Schreiter, ein Avantgardist aus Langen bei Frankfurt, sorgte gerade für Aufsehen in der sakralen Szene.
Die Idee, die Schreiter für Heiliggeist entwickelte, war so sensationell wie naheliegend. Der Künstler wollte der evangelischen Hauptkirche die gestohlene Bibliotheca Palatina zurückgeben. In Form von Glasfenstern. Die zwölf Fenster im Chor sollten sich auf reinweißem Grund mit der Theologie beschäftigten. Im Schiff wollte Schreiter die Errungenschaften der Natur-, Geistes- und Wirtschaftswissenschaften darstellen. In all ihrer Ambivalenz, auf blutrotem Hintergrund. Rot ist die liturgische Farbe des Heiligen Geistes.
Die Schreiter-Entwürfe spalteten die Stadt. Monatelang.
1984 wurde das „Physik-Fenster“ eingebaut. Es ist nicht ohne. „Einerseits erinnert das Fenster an die Entwicklung der Atomphysik, zugleich aber auch daran, dass deren Höhepunkt der Abwurf der Atombombe auf Hiroshima war“, erklärt Johannes Schreiter. Der bibelfeste Protestant hat auch ein Zitat aus dem 2. Petrusbrief eingearbeitet: “Es wird aber des Herrn Tag kommen wie ein Dieb in der Nacht, an welchem die Himmel vergehen werden mit großem Krachen.“
Das alles sei „absolut modern, kompromisslos gegenwärtig“, fand die FAZ. Heidelberg fand das nicht. Die Entwürfe spalteten die Stadt, monatelang. Dann lehnte der Kirchengemeinderat den Schreiter-Zyklus ab. Stille, Fassungslosigkeit.
Einige Entwürfe wurden später anderswo realisiert. Das Medizinfenster in Darmstadt, das Literaturfenster in Karlsruhe und das Biologiefenster in Langen.
Brandcollagen machten den jungen Johannes Schreiter berühmt
Johannes Schreiter stammt aus dem Erzgebirge. 1930 geboren, floh er 1949 in den Westen. Dabei zog er sich eine Nervenentzündung zu, die seinen Traum von einer Karriere als Pianist beendete. Schreiter studierte Malerei. In Münster, Mainz und Berlin. Der junge Wilde begeisterte sich für das abstrakte Informell und erfand „Brandcollagen“ aus verkohltem Papier. Sie machten ihn berühmt. 1963 erhielt er einen Ruf an die Hochschule für Malerei nach Frankfurt, wo er „Freie Malerei und Graphik“ lehrte. Von 1971 bis 1974 leitete er die Städelschule.
Wir verlassen die Heiliggeistkirche und passieren das Haus zum Ritter. Es ist das einzige Renaissancegebäude, das den großen Stadtbrand von 1693 überlebt hat. Weil aus Stein gebaut. „Soli Deo Gloria“ steht am Giebel zu lesen. „Nur zur Ehre Gottes“. Bach hat seine Werke so signiert. Johannes Schreiter tut es auch. Seit 1995.
Am Universitätsplatz verlieft im Mittelalter die Stadtmauer mit Wassergraben. Wovon noch die Adresse der Alten Universität kündet: Grabengasse 1. Hier erhielt Johannes Schreiter 2005 die Ehrendoktorwürde der Theologischen Fakultät. Weil der Künstler der sakralen Glasmalerei „Anerkennung und Würde zurückgegeben hat.“. Eine späte Wiedergutmachung, zwanzig Jahre „danach“. Noch im selben Jahr bat die Universität ihren Ehrendoktor, Fenster für die Peterskirche zu entwerfen. Wieder stand ein Jubiläum an: 2011 feierte man 625 Jahre Ruperto-Carola. Johannes Schreiter sagte zu. Von Herzen.
Station 2: Die Peterskirche
Die Peterskirche die älteste Kirche der Heidelberger Altstadt. Sie stand schon, bevor die Stadt gegründet wurde. Den Stadtbrand hat nur der gotische Chor überlebt, das Langhaus ist neugotisch. Seit 1896 fungiert das evangelische Gotteshaus als Universitätskirche. 2005 erhielt der Innenraum ein modernes, elegantes Ambiente. Der Schreiter-Zyklus machte die Peterskirche 2012 zum Gesamtkunstwerk.
Wir starten in der Universitätskapelle. Hier liegt das Gedenkbuch, das an die jüdischen Professoren erinnert, die während der NS-Diktatur vertrieben wurden. Damit ist das Grundthema vorgegeben.
Johannes Schreiter beginnt leise: „Begegnung“. Man sieht U-förmige Klammern. 19 Paare, übereinander geschichtet. Die U-Zeichen symbolisieren bei Schreiter die Menschen. Zeitlebens strecken sie ihre Hände aus nach einem Gegenüber. Wenn zwei dieser Klammern sich verbinden, formen die ausgestreckten Arme ein Kreuz. Manchmal springt sogar ein göttlicher Funke über. Dann färbt der Heilige Geist das Kreuz rot. Das funktioniert aber nicht immer. Zwei Klammern im Begegnungs-Fenster bleiben schmerzlich allein. Ein Paar wendet sich von einander ab.
Gespenstische graue Klammern marschieren in Reih und Glied
Graue Klammern dominieren das Westfenster der Kapelle. Gespenstisch marschieren sie in Reih und Glied, während tödliche schwarze Klammern Jagd machen auf hilflose weiße U-Formen. „Vertreibung“. Eine weiße Klammer wendet sich noch um . Zögernd reicht sie dem schwarzen Verfolger die Hand. Sofort geht eine Bleitrute dazwischen, wie eine Peitsche. „Unberechenbare Störenfriede“, nennt Schreiter die Ruten, die in jedem seiner Fenster auftauchen. Sie zerstören und verletzen, aggressiv und regellos. Fast scheint es, als führten sie ein Eigenleben.
Doch die Verfolger haben nicht das letzte Wort. Das hat die „Auferstehung“. Wie ein Vulkanausbruch reißt das göttliche Weiß das dunkle Grab entzwei und strebt als Stichflamme gen Himmel. Mehr Ostern geht nicht. Zumal aus dem Maßwerk auch noch das Licht des Ostermorgens herabströmt, um die Seelen ihren Gräberreihen zu entreißen. Weiß und schwerelos streben die verklärten Leiber ins Licht. Welch eine Zusage.
Die Schreiter-Fenster in der Peterskirche haben eine andere Ausstrahlung als die Entwürfe für Heiliggeist. Sie sind friedlicher, wärmer, goldener. Heidelberg, eine Stadt des Südens.
„Aus meiner Rückkehr zum Glauben ergab sich ein sofortiger Angstverlust“
1983 übernahm Johannes Schreiter eine Gastprofessur in Neuseeland. Ein unbekanntes Virus befiehl ihn, er konnte nicht mehr arbeiten, nicht mehr sprechen. Todesängste, fünf Jahre lang. Dann begann Schreiter zu beten. Erstmals seit Jahrzehnten. „Aus der Rückkehr zum Glauben an Jesus Christus ergab sich für mich ein sofortiger Angstverlust. Eine Veränderung, wie ich sie in diesem Ausmaß nie für möglich gehalten hätte.“ Schreiter genaß. Seine Arbeiten wurden leuchtender, transzendenter. Soli Deo Gloria.
Auf der Nordseite der Peterskirche liegt die Gebetskapelle. Sie ist der Ort des „Zur-Ruhe-Kommens unserer gejagten Seelen“ (Schreiter). Als breite weiße Fahne senkt sich der Friede Gottes sanft vom Himmel herab. Darin geborgen ein rot-goldenes U. Die Hand Gottes? Die Menschwerdung Jesu als ewiges Friedenszeichen?
Daneben Pfingsten. Gottes Geist strömt nicht als Flammenzunge zur Erde sondern als kraftvoller, dynamischer roter Pfeil. Allerdings gehen die Menschen nicht sehr sorglich mit dem Geist-Strom um. Auf der Erde lodern nur noch winzige rote Flämmchen inmitten sperriger Blöcke aus Alltagsgrau.
Glasklar und rein umspült die Taufe das Grab
Das Tauffenster. Auch ein Nordfenster. Kein Sonnenstrahl fällt je hindurch, doch das tangiert seine Schönheit nicht. Das Fenster leuchtet von selbst. Wir sehen ein Grab. Furchteinflößend. Ein grauer Klammermensch verschmilzt gerade mit dem Dunkel, wie Schlangen züngeln Bleiruten um die Grube. Dann kommt das Blau. Glasklar und rein wie ein Bergbach umspült das Wasser der Taufe das Grab. Es verwandelt die graue Gestalt in göttliches Weiß und trägt sie in einem starken Strahl hinauf zum Himmel. So mächtig ist die Taufe.
Manchmal zur Mittagszeit, wenn die Sonne auf das große Südfenster fällt , scheint die Atmosphäre in der uralten Peterskirche magisch aufgeladen. Beim Nähertreten registriert man Pfeile. Sie zielen auf ein Quadrat in reinem Weiß: „Das himmlische Jerusalem“. Schreiters Vision vom Paradies. Wir sehen die Stadt mit den zwölf Toren, die die Geheime Offenbarung beschreibt. Pfeile markieren die Tore und laden zum Hineingehen ein. In der Mitte Schreiters Darstellung der Trinität. Weiß trifft Weiß, dazwischen lodert das Feuer des Heiligen Geistes.
Doch die goldene Stadt schwebt nicht losgelöst in den auf Wolken. Sie fusst auf dem irdischen Jerusalem. Um die Gefährdung der heiligen Stadt darzustellen, ist Schreiter wieder zu seinen frühen Brandcollagen zurückkehrt.
„Wort“ und „Sakrament“ setzen die Schlusspünktchen
Ein winziger Teil des romanischen Kirchenschiffs hat den neugotischen Umbau der Peterskirche überlebt. Dort gibt es – kaum wahrnehmbar – zwei kleine Südostfenster. Als „Wort“ und „Sakrament“ schließen sie den Schreiter-Zyklus ab.
Die beiden Schlusspünktchen sind die einzigen Fenster auf weißem Grund. Die Farbe aller Farben steht immer für die Präsenz Gottes. In Wort und Sakrament ereignet sich Gott. Die Kernaussage der evangelischen Theologie. Im Sakramentfenster begegnen wird den Pfeilen wieder. Sie sind rot. Wie die Liebe und das Blut Christi. Die göttlichen Pfeile wirken ins vergängliche Grau heinein. Mit erstaunlichem Ergebnis. Das Grau birst, aufgewühlte Bleiruten zucken hervor. Wo sie ins Gold eintreten, bildet sich ein winziger violetter Tropfen. Die Buße.
Eine Warnung an die Kirche vor Selbstzufriedenheit?
Das Wort-Fenster unterteilt die Welt in zwei Hälften: Hier der sienagoldenen Bereich, wo Gottes Wort gehört wird. Dort der graue Alltag. Doch diese Unterscheidung lässt sich nicht durchhalten. Ins Gold bricht ein massiver grauer Block ein. Eine Warnung an die Kirche vor Selbstzufriedenheit?
„Johannes Schreiter ist weit und breit der einzige Künstler, der innerhalb des schwierig gewordenen Dialogs zwischen Kirche und Kunst an den hohen Ansprüchen festhält, die in früheren Jahrhunderten selbstverständlich waren“, schreibt die FAZ.
Station 3: Die evangelische Kapelle in der Plöck
Kaum war der Zyklus in der Peterskirche vollendet, kam eine erstaunliche Meldung: Auch die Evangelische Kapelle in der Plöck 47 erhält vier Schreiter-Fenster. Das ist die letzte Station unseres Spaziergangs durch die Avantgarde.
Die Kapelle liegt im Innenhof des Wilhelm-Frommel-Hauses. Sie ist die Diakoniekirche der Stadtmission. Die Kapelle ist ein Zuhause für Wohnungslose und Flüchtlinge, Einsame und Süchtige. 1875 haben sich Heidelberger Bürger zusammengeschlossen, um nach Johann Hinrich Wicherns Vorbild eine Kirche der Nächstenliebe zu bauen. Seit 2011 strahlt die Kapelle in puristischem Weiß. Ihr moderner Altar, aus 700 Jahre altem Eichenholz gefertig, ist voll von Narben und Brüchen. Wie die Besucher dieser Kirche.
Die vier Schreiterfenster in der Kapelle sind erdiger, sozialkritischer als die Werke in der Peterskirche. Das Weiß der Vollkommenheit Gottes bildet einen fast schmerzhaften Kontrast zu den braunen Felsblöcken der menschlichen Allmachtsfantasie. Doch Gott ist langmütig.
Der goldene Lichtstrahl des Paradieses und die rote Lebensader des Heiligen Geistes brechen das irdene Gefängnis Stück für Stück auseinander. Zaghaftes Grün keimt auf. Frisches Leben. Neue Hoffnung.
Von der Atombombe auf Hiroshima zum Turmbau zu Babel
Gegenüber begegnen wir einer mächtigen grauen Gestalt. Sie fällt. Bleiruten zucken wie Blitze um sie herum. Am Rand des Fensters leuchten die Worte des Magnificat auf: „Gott stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen.“
Mit der Atombombe auf Hiroshima begann unser Schreiterspaziergang. Mit dem Turmbau zu Babel endet er. Menschliche Hybris hier wie da. Wir sehen hohe Säulen, drohende, düstere Türme. Sie streben völlig isoliert vom goldenen Gnadenstrom Gottes gen Himmel. Ein Selbstmordkommando. Was hilft? „Nur das Beten“, sagt der 88-jährige Johannes Schreiter. Gebete haben unendlich viel Kraft. Sie zertrümmern jeden Stein.