16. Heidelberger Frauenwallfahrt: 1. Juli 2018: Hirschhorn

Der 1. Juli 2018 lag mittendrin in dem, was man später den „Jahrhundert-Sommer“ nennen würde. Eine endlose Abfolge strahlend blauer Tage mit einer Durchschnittstemperatur von 20,1 Grad. Platz 2 in der ewigen Tabelle der sonnenreichsten Jahre. Perfekte Bedingungen also für eine Pilgerfahrt ins Neckartal. Die S2 brachte uns in einer halben Stunde vom Heidelberger Hauptbahnhof nach Hirschhorn.

Der Hirschhorner Bahnhof liegt etwas außerhalb der Stadt. Was aber nicht anders zu machen war, denn die Altstadt ist bis heute von einer intakten mittelalterlichen Stadtmauer umgeben. Kein Krieg hat Hirschhorn je zerstört. Auch das Bahnhofsgebäude von 1879 ist weitgehend im klassizistischen Original erhalten. Nach etwa zehn Minuten erreichten wir die Hauptstraße.

xxxxxx

Hirschhorn ist eine der ältesten Ansiedlungen im Neckartal. Funde belegen, dass hier schon vor 6000 Jahren Menschen gelebt haben. Was nicht verwundert, wenn man das Luftbild der Gegend betrachtet. Wir befinden uns hier an einer halbinselförmigen Neckarschleife, genannt der „Hirschhorner Hals“, in der die Menschen gut vor feindlichen Angriffen geschützt waren. Zudem fanden sie hier Wasser und Fische in Fülle. Der älteste Teil Hirschhorns ist daher auch das Dörfchen Ersheim, das in der Schleife liegt. Es besitzt eine phantastische gotische Kapelle. Unser erstes Ziel!

Vom Bahnhof bis zur Ersheimer Kapelle war es schon ein ordentlicher Fußmarsch, aber immerhin ein abwechslungsreicher. Weil der Weg mitten durch die Altstadt führte. Das fühlte sich an, als spazierten wir mitten durch ein romantisches Gemälde. Hoch oben thronte das Zauberschloss der Ritter, eine einzigartige Melange aus Renaissancepalast und mittelalterlicher Trutzburg. Tief unter uns strömte hörbar der Neckar. Dazwischen wachte die uralte Stadtmauer, gesäumt und bekrönt von winzigen Häuschen. Fachwerk, wohin wir auch sahen. Und keine Autos.

Die trafen wir erst am Stauwehr wieder. Seit 1933 bändigt eine Doppelschleuse den einst so wilden Neckar. Die Schleuse ist integriert in eine massive Brücke für besagte Autos. Was uns Pilgerinnen aber nicht störte, da die Fahrzeuge den Neckar auf einem separierten Weg überqueren. Als das Brausen und Rauschen allmählich leiser wurde, sahen wir die Kapelle in der Ferne. Sie gehört zum Schönsten, was das Neckartal zu bieten hat.

xxxxx

773 wurde erstmals eine Kapelle im Flecken Ersheim erwähnt. Ihr Patrozinium „Sankt Nazarius und Sankt Celsus“ ist ungewöhnlich und sehr alt. Es deutet auf eine karolingische Gründung hin. Damit ist die Ersheimer Kapelle die älteste Kirche im Neckartal.

Viele Jahrhunderte lang war sie das einzige Gotteshaus von Hirschhorn. Die Freiherrn beschäftigten neben dem Pfarrer noch fünf Kapläne, die den ganzen Tag Seelenmessen lasen. Oft an mehreren Altären gleichzeitig. Im Mittelalter stand das Kirchlein auch nicht allein, sondern war umgeben von Pfarrhäusern und Wirtschaftsgebäuden.

Eine Brücke nach Ersheim allerdings gab es damals noch nicht. Wer beten wollte, musste mit dem Fährmann im Nachen übersetzen. Was mitunter sehr gefährlich war. Der Neckar war noch ein ungezähmter Strom mit berüchtigten Launen.

Da er Jahr für Jahr auch das Dorf Ersheim überschwemmte, befahlen die Ritter schließlich, dass sich ihre Untertanen nur mehr auf dem Hirschhorner Ufer ansiedeln durften. Ersheim verwaiste. Erst im 20. Jahrhundert wurde das Dorf als Stadtteil von Hirschhorn neu errichtet. Ersheim ist der einzige Ort Hessens, der südlich des Neckars liegt.

xxxxxx

Der heutige Chor mit dem prachtvollen Netzgewölbe ist gotisch und stammt aus dem Jahr 1517. Ihn zieren Grabsteine der Ritter von Hirschhorn. Die Madonna und ihr Altarschrein allerdings entstanden in der Neugotik.

Das wichtigste Epitaph zeigt Engelhard I. von Hirschhorn, den Stammvater des Rittergeschlechts. Engelhard war zunächst Lehnsmann des Mainzer Erzbischofs, wechselte aber 1339 in den Dienst des Pfalzgrafen Rudolf II. Damit begann sein kometenhafter Aufstieg.

Engelhard scheint ein Finanzgenie gewesen zu sein. Vielleicht könnte man ihn den ersten Bankier in der Geschichte der Kurpfalz nennen. Der Hirschhorner Ritter verlieh äußerst freigiebig Geld und verlangte als Pfand Ländereien. Da die meisten Edelmänner ihre Darlehen nie zurückzahlten, avancierte Engelhard bald zum größten Landbesitzer in weitem Umkreis. Er besaß Dörfer im Neckartal, im Kraichgau, im Odenwald und sogar in der Pfalz. Auch Kaiser Karl IV. lieh sich gern Geld von Engelhard, was ihn zum Reichsritter machte. Ein enormer Statusgewinn. Als Engelhard starb, zählten die Hirschhorner zu den wichtigsten Familien im Reich.

XXXX

Das Langhaus der Kapelle dürfte um einiges älter sein als der Chor. Man tippt auf 1355. Weil aus dieser Zeit die prachtvollen Fresken stammen. Beim Verlassen der Kirche entdeckten wir rechts an der Wand noch einen kleinen Kopf aus Sandstein. Die Überlieferung sagt, dass es sich um ein Selbstporträt des Baumeisters handelt.

1528 kam die Reformation nach Hirschhorn. Die Ersheimer Kapelle war jetzt die protestantische Stadtkirche, bis sie um 1636 diese Rolle an die ehemalige Klosterkirche übergab. Die Kapelle in der Neckarschleife diente von da an nur mehr als Friedhofskirche. Sie verfiel und sollte 1818 sogar abgerissen werden.

Doch da war die Bürgerschaft vor. Lautstark. Und so heftig, dass der Mainzer Bischof – Hirschhorn liegt in Hessen und gehört damit zur Diözese Mainz – schließlich von dem Plan abließ. Später finanzierte das Bistum sogar die Freilegung wertvollen Fresken, die man zur Zeit der Reformation übertüncht hatte. Auch Grabmale der Ritter, die die Calvinisten als Trittsteine genutzt hatten, wurden restauriert.

xxxxx

Direkt neben der Tür unter dem Aufgang zur Empore entdeckten wir einen spätgotischen Ölberg. Er stammt aus dem Jahr 1669 und ist erstaunlich gut erhalten. Ein Kleinod.

Die zierliche Totenleuchte gegenüber hat Konrad von Hirschhorn 1412 gestiftet. Er war Domherr in Worms. Die Spitze des Denkmals trägt ein kleines Kruzifix. Die Tradition, dass in der Nische das ewige Licht brennt, wird bis zum heutigen Tag gepflegt. 

Für das Land Hessen ist die Ersheimer Kapelle inzwischen übrigens unentbehrlich geworden. Wegen ihres Dachstuhls. Er beherbergt die größte Kolonie einheimischer Fledermäuse. Ungefähr tausend Weibchen des „Großen Mausohrs“ ziehen hier jeden Sommer ihre Jungtiere auf.

XXXXX

Auf unserem Rückweg in die Stadt stand die Sommersonne schon empfindlich hoch am Himmel. Wir konnten ein Stück direkt am Neckar gehen und Kraft schöpfen für den Aufstieg zum Karmeliterkloster. Die bildhübsche gotische Klause liegt genau in der Mitte zwischen Neckar und Schloss, und damit im Zentrum dieses idyllischen Gemäldes, das sich Hirschhorn nennt.

Das Kloster entpuppte sich als zarte gotische Schönheit, direkt an die Felswand geschmiegt. Lediglich der geostete Chor spitzelt hinaus in die Welt. Um 1400 wurde mit dem Bau des exakt geosteten Klosters begonnen. Zwölf Mönche hatte der Papst genehmigt. Das Geld für den Kirchenbau stammte aus dem Verkauf von Ablassbriefen. Ein im Mittelalter absolut üblicher Finanzierungsweg.

Am 30. Mai 1406 übergab Hans V. von Hirschhorn den Karmelitermönchen das neue Kloster. Und überschrieb ihnen gleichzeitig alle künftigen Einnahmen der Pfarrei Eppingen, damit sie die Klause finanzieren konnten.

XXXXXXXX

Der Karmeliterorden bestand ursprünglich aus asketischen Eremiten, die seit dem 12. Jahrhundert auf dem Berg Karmel in Palästina lebten. Jeder Mönch lebte isoliert in seiner Zelle, gesprochen wurde nicht. In der Mitte des 13. Jahrhunderts sahen sich die Mönche durch das Vorrücken der Muslime gezwungen, nach Europa auszuwandern.

Hier gaben sie ihre isolierte Lebensweise auf, um sich der Wissenschaft zu widmen. In Hirschhorn waren die Mönche sehr beliebt, weil sie die Kinder unterrichteten und sie sogar auf die Universität vorbereiteten.

In der Klosterkirche schied ein blickdichter Lettner den Mönchschor vom Hauptschiff. Es gab ursprünglich neun Altäre, an denen die Patres rund um die Uhr zelebrierten. Die Altäre sind alle während der Reformation verschwunden.

XXXXX

Der Schrein des heutigen Hochaltars stand ursprünglich in der Ersheimer Kapelle. Allerdings sind die Figuren nicht mehr vollständig erhalten. Nur noch die Madonna ist spätgotisch (um 1510). Alle anderen Figuren neugotische Nachschöpfungen.

Ganz anders die wunderbaren Fresken! Sie stammen alle noch aus dem Mittelalter. Besonders wichtig war damals der heilige Christophorus. Die Menschen glaubten, dass sie an einem Tag, an dem sie Christophorus gesehen haben, vor dem Tod geschützt waren. Deshalb ist sein Bild in mittelalterlichen Kirchen immer besonders groß und gut sichtbar. 

Eine wichtige Funktion der Klosterkirche war die Grablege der Ritter. In den Boden eingelassen sieht man heute noch zahlreiche Grabplatten. Früher gab es auch um die Kirche herum zahlreiche Gräber. Das Epitaph des Kloster- und Stadtgründers Hans V. findet sich an der Südwand. Das Künstlerisch bedeutendste Epitaph ist das von Melchior von Hirschhorn und seiner Kunigunde (1476). Sie ruht auf einem Kissen, was ihren frühen Tod andeutet.

xxxxx

Spätgotische Kreuzigungsgruppe um 1520. Augen! Jesus: Entspannung im Tod nach den erlittenen Schmerzen. Maria Ergebung und Trauer. Vermutlich früher außen am Lettner angebracht. Zwei große Triumphbögen. An der Orgelempore finden sich die Wappenstein der Stifter. 

Wahrscheinlich im Mittelalter keine kostbaren Glasfenster. Die heutigen Fenster sind neugotisch stammen aus dem Jahr 1891. Spätgotische Anna Selbdritt. Maria und das Christuskind als Wurzel Jesse dargestellt. 

1528 war es vorbei mit dem Frieden in Hirschhorn. Engelhard III. führte die Reformation ein, die Mönche mussten gehen, katholische Messen wurden verboten, eine protestantischer Prediger hielt Einzug. Die Ersheimer Kapelle avancierte zur protestantische Stadtkirche und das aufgehobene Kloster wurde zum Witwensitz für die Mutter des Freiherrn umgebaut. Ludwig I. von Hirschhorn schließlich verwandelte die die mittelalterliche Burg in ein Renaissance-Schloss. Der letzte Karmeliter wurde 1570 des Klosters verwiesen. Hirschhorner Ritter bauten die Klosterkirche zu einer protestantischen Predigerkirchen um. Aus der Annakapelle wurde eine Gruft. Der Lettner wurde abgebaut und als Orgelempore wieder aufgebaut. Kirche erhielt eine Kanzel. 

Mainzer Erzbischof unterstützte den Karmeliterorden bei der Wiederherstellung des Klosters. 1636 Klosterkirche wurde nun Hirschhorner Pfarrkirche. Ersheimer Kapelle nur mehr Friedhofskirche. Karmeliter begannen sofort mit der Rekatholisierung. 1731 schrieb der Prior ein den Kurfürsten: „Wir haben die gantze lutherische Gemeinde völlig katholisch gemacht. Wenn wir dieses mit großer Mühe und Unkosten nicht getan hätten, wäre keine einzige kathiolische Seel im Neckarthal.“ Im 18. Jahrhundert gelangte der Konvent zu neuer Blüte. Karmeliterpatres waren hochgebildet, hatten an der Universität studiert und entfalteten eine rege religiöse Tätigkeit. 

XXXXX

1513 wurde die Annakapelle an der Südseite angebaut. 

Dreißigjähriger Krieg: Katholische Kräfte erzwangen, dass das Kloster wieder eröffnet wurde. Jetzt gab es keine evangelische Kirche mehr am Ort. Friedrich III. ließ 1628 die Marktplatzkirche errichten. 

1803 gänzlich aufgegeben. Marienverehrung. 

aufgehoben. Bis 2009 indischen Patres dort wieder einzogen. Auch die Seelsorge für die Katholiken Hirschhorn und Neckarsteinach übernahmen. südindischen Kerala.

1636: Karmeliterkloster wird Stadtkirche. Karmelitenkloster Mariä Verkündigung. Karmeliterkirchen sind immer Maria geweiht. Erinnert an die erste Marienkapelle auf dem Berg Karmel Karmeliten: Orden der Brüder der allerseligsten Jungfrau vom Berge Karmel.

1632 starb der letzte Ritte von Hirschhorn. Hirschhorn fiel nun an Kurmainz zurück.

Karmeliter behielten die protestantischen Umgestaltungen, da sie sich gut für eine Stadtkirche eigneten. Gotischer Hochaltar wurde durch einen barocken ersetzt. 

1732 musste die Kloserkirche ihre Rolle als katholische Pfarrkirche an die Marktkirche abgeben. 1803 löste die Säkularisation das Kloster auf. Das Inventar wurde versteigert. Nur weniges ist erhalten. Kirche verfiel und stand lange als Ruine. 1929 wurde die Annakapelle restauriert. Ab 1998 die Komplettsanierung. Rekonstruktion der spätgotischen Tonnendecke. Neuer Zelebrationsaltar. 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*