Neckarzimmern: Das Kirchlein auf dem Zauberberg

Die Kapelle war ein Bausatz:
„Zum Selbstbauen“.

Eine Lichtung im Odenwald. 310 Meter über Neckarzimmern. Kein Ausblick, nirgends. Doch der Himmel ist offen. Und unendlich weit. Ein mystischer Ort. Zu allen Zeiten haben Menschen an solchen Plätzen Kirchen gebaut. Aus rauen Stämmen mit Satteldach. Wie die Waldkapelle, die seit 2011 hier oben steht.

Von außen verschmilzt das Kirchlein fast mit seiner Umgebung. Innen ist es ein Haus aus Licht, das sich zu jeder Tageszeit neu erfindet. Die Waldkapelle wird flankiert von Skulpturen aus Stein. Sie formen den Davidstern. Als Mahnmal für die badischen Juden, die von der NS-Diktatur ermordet wurden. Jede Stele ist anders. Jede umweht ein Geheimnis. Willkommen auf dem Zauberberg.

Es sollte ein Gotteshaus sein, dass auch Jugendliche aufbauen können. Eine Art sakrales IKEA.

Die Aufgabe des Architekten-Wettbewerbs war speziell. Man brauche, teilte die Badische Landeskirche mit, eine „Kirche zum Selbstbauen“. Für die Evangelische Jugenbildungsstätte Neckarzimmer. Es sollte ein Gotteshaus sein, das auch Jugendliche zusammenschrauben können. Eine Art sakrales IKEA. Die Sache hat funktioniert.

Archaisch und reduziert. Eine Schwester des Waldes.

Der Siegerarchitekt schlug eine radikal reduzierte Holzkirche vor. Sie erhält ihre spirituelle Atmosphäre allein durch die genialen Fenster. „Unser Baustoff ist das Licht“. 130 Holzrahmen wurden vorgeschnitten geliefert. Die Jugendlichen steckten sie zusammen und rieben sich die Augen: Die Kapelle sah aus, als habe sie schon immer hier gestanden. Die Schwester des Waldes. Dieser Eindruck verstärkt sich, je mehr die Schindeln nachdunkeln.

Alles ändert sich immerfort. Ein Kirchenraum, mit dem man nie fertig wird.

Wer eintritt, steht in einem lichten Zelt. Es ist leer. Nur in den Ecken stapeln sich würfelförmige Holzhocker. Man kann sie miteinander verbinden. Dann werden sie zum Altar, zum Ambo, zum Regal. Alles fließt in dieser Kapelle. Alles ändert sich.

Ein lichtes Zelt. Mit jeder Tageszeit erfindet es sich neu.

Vor allem das Licht. Je nach Tageszeit tanzt es über das Holz, über die Wände, malt Bilder, wirft Schatten. Ein Kirchenraum, mit dem man nie fertig wird.

Die Evangelische Jugendbildungsstätte existiert seit 1949. Doch die Säle, Gästehäuser, Sport- und Spielplätze werden beständig modernisiert. Konfis kommen hierher. Schulklassen. Älteste. Familien. Pilger. Die Glocke im Dachreiter der Waldkapelle stammt noch aus der Zeit nach dem Krieg.

Das Ökumenische Jugendprojekt „Mahnmal“ erinnert an die 5600 Menschen jüdischen Glaubens, die nach Gurs deportiert wurden.

Womit wir beim „Ökumenische Jugendprojekt Mahnmal“ wären. Draußen vor der Tür. 2004 kamen die ersten Erinnerungssteine nach Neckarzimmern. 138 sollen es werden.

Alle Gedenksteine wurden von Jugendlichen selbst entworfen.

Das ist die Zahl der badischen Städte und Dörfer, aus denen jüdischen Familien deportiert wurden. Am 22. Oktober 1940. 5600 Menschen, stehend in Sonderzüge gepresst. Drei Tage lang. Dann das Lager Gurs in den französischen Pyrenäen. Die Hölle. Wer sie überlebte, wurde in Auschwitz ermordet. Ein furchtbares Kapitel deutscher Geschichte.

Doch die Gedenksteine sind phantastisch. Eine Explosion von Sensibilität, Phantasie, Mut. Die Jugendlichen haben die Erinnerungssteine allein entworfen. Nur die Ausführung übernahmen Steinmetze. Sie fertigten immer zwei Exemplare. Eines steht im jeweiligen Dorf, das andere auf der Lichtung im Odenwald. 310 Meter über Neckarzimmern. Wo der Himmel offen ist. Und unendlich weit.

Kirchenfakten
Name: Waldkapelle Neckarzimmern
Adresse: Steige 50, 74865 Neckarzimmern
Konfession: evangelisch
Baujahr: 2011
Baustil: Moderne
Kunstschätze:
Das „Mahnmal“:
Eine 25 mal 25 Meter große Bodenskulptur in Form eines Davidsterns vom Gondelsheimer Künstler Karl Vollmer
138 von Jugendlichen gestaltete Gedenksteine an die Deportation der Badischen Juden im Nationalsozialismus
Der 139. Stein: „Der Koffer“ gestiftet vom Freundeskreis des ehemaligen
Internierungslagers Gurs
Die Steine besitzen QR-Codes, die gescannt werden können und durch das Mahnmal führen.
Öffnungszeiten: Nach Vereinbarung. Den Schlüssel für die Kapelle gibt es an der Pforte der Jugendbildungsstätte.
Kontakt: Evangelische Jugendbildungsstätte Neckarzimmern,
Steige 50, 74865 Neckarzimmern
Telefon: 06262-2555
E-Mail: info@jugendbildungsstaette-neckarzimmern.de
Internet:www.jugendbildungsstaette-neckarzimmern.de

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