Die Landstraße am Fluss döst in der Spätsommersonne. Fischer staken ihre Kähne durchs Wasser, überreife Felder wogen still hinauf zum Odenwald. Auf halber Höhe schmiegt sich ein Anwesen an den Hang, dessen Kirchlein seinen Dachreiter vorwitzig gen Himmel reckt: Stift Neuburg anno 1827.
Ernst Fries hat das Bild gemalt. Als Sehnsuchtsort der Romantik. Heute braust links und rechts des Neckars der Verkehr, doch die Abtei Neuburg ist Sehnsuchtsort geblieben. Unverbaut und traumschön. Ein Spaziergang durch den Heidelberger Stadtwald – und durch die Geschichte des Klosters.
Erst Einsiedelei an der Mündung des Mausbachs, ….
Der Gang zum Stift startet an der Alten Brücke. „Wie der Vogel des Waldes“, schwinge sie sich über den Neckar, während sie „von Wagen und Menschen tönt“, dichtete Hölderlin um 1800. Viel hat sich nicht verändert. Drüben auf der Neuenheimer Seite klettert der Schlangenweg steil 160 Höhenmeter hinauf zum Philosophenweg. Der Lohn für den Aufstieg ist ein spektakuläre Blicke auf die Altstadt. Man sieht Fluss, Schloss, Brücke und ungewöhlich viele Kirchtürme auf engstem Raum.
Tatsächlich war Heidelberg einst heiliges Pflaster. Kloster reihte sich an Kloster. Augustiner, Dominikaner, Franziskaner. Und auf dem Heiligenberg beteten die Benediktiner. Das kleinste Pflänzchen war die „Cella zu Niwenburg“. Ein reicher, frommer Mann namens Anselm hatte die benediktinische Einsiedelei 1130 über der Mündung des Mausbachs in den Neckar gegründet.
Doch das Klösterchen wollte nicht gedeihen. 1195 machte der Abt von Lorsch kurzen Prozess und verwandelte Neuburg in ein Frauenkloster. Zur Blüte gelangte auch dieser Konvent nie, aber die Schwestern hielten durch bis 1562. Dann wurde Heidelberg evangelisch. Das Kloster ward.
… dann Fräuleinstift für illegitime Fürstentöchter
Der Philosophenweg verläuft fast höhenlinienparallel. Weshalb er ein Dorado ist für Spaziergänger, Jogger, Walker und Radler. Wir wenden uns nach Osten und treffen wieder Hölderlin. Mit einer Anlage dankt ihm Heidelberg für seine Liebeserklärung an „der Vaterlandsstädte Ländlichschönste“. Bei der Hütte des Odenwaldclubs tauchen wir ein ins Grün des Stadtwaldes.
1672. Der Dreißigjährige Krieg hatte die Kurpfalz verheert und geschrumpft. Heidelberg, die einst leuchtende Metropole der calvinistischen Welt, war nur mehr ein Gerippe in Lumpen. Drei Jahrzehnte rang Kurfürst Karl Ludwig um den Wiederaufbau, während droben im Schloss Eiszeit herrschte. Der Kurfürst nämlich hatte sich „zur linken Hand“ mit der attraktiven Luise von Degenfeld vermählt.
13 Kinder gingen aus dieser Verbindung hervor. Die Söhne brachte man beim Militär unter, für die Töchter ließ der Kurfürst das ehemalige Kloster Neuburg als „Fräuleinstift“ herrichten. Lediglich neun Jahre existierte das calvinistische Damenpensionat. Der Name „Stift“ ist geblieben.
Das Objekt ist „zu einer großen Fabrikanlage vorzüglich geeignet“
Der Philosophenweg steigt jetzt sanft an. Unten gleitet die „Königin Silvia“ über den Neckar, Schloss und Karlstor liegen wie gemalt. Mühelos erreichen wir die Moltkehütte, den höchsten Punkt unseres Spaziergangs. Das Holzhaus blickt auf eine Streuobstwiese, nebenan plätschert eine gefasste Quelle. Der ideale Ort für eine kurze Rast.
1804 ließ Napoleon die kirchlichen Besitztümer Heidelbergs versteigern. Das Stift ging an den Mannheimer Philipp Ludwig Houth. Er taucht nur deshalb in unserer Geschichte auf, weil er Carl Maria von Weber im Stift wohnen ließ. Der Komponist entdeckte in der Bibliothek ein „Gespensterbuch“, aus dem er später das Libretto für seinen „Freischütz“ bastelte. 1812 bot Houth das Anwesen in der Zeitung zum Kauf an. Das Objekt sei „zu einer großen Fabrikanlage vorzüglich geeignet“.
Bevor es so weit kam, griff – Gott sei Dank – der Frankfurter Advokat Johann Friedrich Schlosser zu. Der Goethe-Fan machte das Ex-Kloster zu seinem Alterssitz und zu einem Treffpunkt für Literaten. Als das Ehepaar Schlosser 1908 kinderlos starb, erbte die Familie von Bernus Haus und Park. Sohn Alexander von Bernus, selbst leidenschaftlicher Lyriker, führte die Tradition des literarischen Salons fort. Seine Gästeliste: George, Rilke, Ricarda Huch, Richard Dehmel, Richard Benz, Klaus Mann und viele mehr.
Tischerücken, Geisterbeschwörung, Seelenwanderung
1911 kippte die Leichtigkeit. Alwar Bernus, der 11-jährige Sohn, war beim Spielen in der Kapelle tödlich verunglückt; der Vater flüchtete sich in die schwarze Magie. Tischerücken, Geisterbeschwörung, Seelenwanderung. Im Keller braute von Bernus magische Pillen und Pulver, die sich gut verkauften. Ulla von Bernus, die Tochter, avancierte den 1980-er Jahren zur „berühmtesten Hexe Deutschlands“. Für etwa zehntausend Mark hexte die „Satanspriesterin“ jeden Menschen tot, den man los sein wollte. Die Medien waren begeistert. Mit wohligem Schauder ließ man die Dame zu besten Sendezeit ihr „Tötungsritual“ vorführen.
1926 war Freiherr Alexander von Bernus Pleite. Er bot dem Erzabt des Klosters Beuron sein Stift zum Rückkauf an. Die Benediktiner fanden die Lage des Klosters nahe der Stadt Heidelberg toll und griffen zu. 1929 wurde Adalbert von Neipperg zum ersten Abt geweiht.
Die meisten Menschen folgen ab der Moltkehütte weiter dem Philosophenweg und gelangen durch das Mausbachtal zum Kloster Neuburg. Romantischer wird es jedoch, wenn man gleich nach der Hütte rechts abbiegt. Der „Obere Guckkastenweg“ schlängelt sich am Berghang entlang, bietet verwunschene Ausblicke und plätschernde Quellbächlein.
Die Klosterkühe lieferten 300 Liter Milch pro Tag
Die 1960-er Jahre waren die Blütezeit der Abtei Neuburg. Der Krieg hatte die Männer fromm gemacht, viele traten ins Kloster ein. Die Mönche lebten streng abgeschieden und versorgten sich selbst. 300 Liter Milch pro Tag lieferten die Klosterkühe, die Brüder züchteten Schweine und Forellen, Hühner und Schafe. Die umliegenden Wiesen lieferten das Heu, die Streuobstbäume die Vitamine. Es gab eine Gärtnerei, eine Schneiderei, eine Schreinerei, eine Schlosserei und eine Buchbinderei.
An Hochfesten war die Klosterkirche so überfüllt, dass man Eintrittskarten ausgegeben musste. Der Konvent beschloss daher, Sankt Bartholomäus zu vergrößern. Der Altarraum der gotischen Klosterkirche wurde um acht Meter nach Osten verlängert. Der legendäre Pater Albert Hohn, eigentlich Orgelsachverständiger, entwarf einen Mönchschor aus heller Eiche mit 34 Stallen und der Neckarsteinacher Glaskünstler Valentin Feuerstein fünf moderne Chorfenster.
Zum Weltruhm durch Bruder Ingoberts Efeuzucht
Weltweit berühmt wurde die Abtei Neuburg durch ihre Efeuzucht. Bruder Ingobert Heieck, der Leiter der Klostergärtnerei, kam Ende der 1970-er Jahre auf die Idee, auf 2300 Quadratmetern Gewächshausfläche über 500 verschiedene Efeu-Sorten anzubauen. Er tat das mit Leidenschaft, aber nicht zum Spaß. Bruder Ingobert hatte erkannt, dass er mit der Spezialisierung auf Efeu deutlich mehr Geld für das Klosters erwirtschaften konnte als mit dem Anbau von Gemüse.
Bald gaben sich Efeufreunde aus aller Welt im Stift Neuburg die Klinke in die Hand. Es gab Efeu-Symposien, Efeu-Kataloge, einen Efeu-Versand. 1993 starb Bruder Ingobert an Krebs. Seine Bücher werden noch immer aufgelegt, die Glashäuser trauern ihm nach.
Der Guckkastenweg ist an seinem Ende angelangt. Entweder steigt man jetzt über den steilen Pfad geradeaus hinunter zum Kloster. Oder man wendet sich nach links und erreicht in einem weiten Bogen das Mausbachtal. Der bequemste Weg führt nach rechts unten. Man durchwandert zwei Kehren und erreicht linker Hand einen Fußweg, den der Neuburger Grenzstein markiert: Ein großes N durchkreuzt von einem Abtstab.
Als die Mönche Ende der 1980-er Jahre Ausschau hielten nach einem neuen Abt, war in der Gesellschaft die Begeisterung für das Klosterleben schon merklich abgekühlt. Eintritte wurden selten, der Neuburger Konvent schrumpfte. In dieser Umbruchsituation bewarb sich ausgerechnet ein Trappist, also ein Schweigemönch, für den Posten des Klostervorstehers: Franziskus von Heereman von der Abtei Mariawald in der Eifel. 1988 wurde er zum vierten Abt von Neuburg geweiht.
Stück für Stück öffnete Abt Franziskus das Kloster in die Gesellschaft hinein.
Abt Franziskus, das stellte sich rasch heraus, war zwar ein schweigsamer Mann aber kein verschlossener. Er beobachtete die Zeichen der Zeit, bedachte sie und handelte. Selbst wenn es ihn und den Konvent Überwindung kostete. Stück für Stück öffnete Abt Franziskus Heeremann das Kloster in die Gesellschaft hinein. Der erste Schritt war wohl der Schwierigste: Der Konvent erlaubte der Gemeinde am Stundengebet teilzunehmen. Fünf Mal am Tag versammeln sich die Mönche in der Klosterkirche, um die Psalmen zu singen, zu beten und das Wort Gottes zu hören. Der monastische Tag beginnt um 6.15 Uhr mit der Laudes und endet mit der Komplet um 19.30 Uhr.
Der Erfolg der Öffnung: Im Mai 2001 gründete sich auf Initiative des Jura-Professors Paul Kirchhof, der mit seiner Familie in Ziegelhausen lebt, der „Verein der Freunde der Benediktinerabtei Neuburg e.V.“. Kirchhof mobilisierte einen schlagkräftigen Trupp aus Unternehmern, Bankern, Handwerkern und Wissenschaftlern, der dem Kloster sein Expertenwissen zur Verfügung stellte – und nebenbei auch Geld sammelte.
Der Verein zählt heute rund 330 Mitglieder und hat fast eine halbe Million Euro für „sein“ Stift eingeworben. 2007, der älter werdende Konvent war längst völlig überfordert mit der Landwirtschaft, gelang es mit Hilfe des Freundeskreises, den Wirtschaftstrakt an die „Klosterhof Neuburg KG“ zu verpachten. Die Mönche hatten jetzt ein regelmäßiges Einkommen.
Stift Neuburg – ein Kloster des Südens
Mehr als ein Vierteljahrhundert bestimmte Abt Franziskus die Geschicke von Kloster Neuburg. Als er sich im März 2016 in den Ruhestand verabschiedete, übergab er seinem Nachfolger ein völlig verändertes Kloster. Wo früher hohe Mauern und eine dunkle Pforte jeden Einblick ins Kloster verwehrten, findet sich heute ein Empfangsraum. Aus dem einstigen Kapitelsaal ist eine warme Aula geworden. Gästehaus und Refektorium sind auch für Frauen geöffnet. Die einst so düstere Kirche strahlt weiß, konzentriert und klösterlich. Kein Heiligenbild und keine Madonna lenken ab von Gott. Ganz wie es der heilige Benedikt in seiner Regel wünscht: „Das Oratorium sei ein Haus des Gebets. Nichts anderes werde dort getan oder aufbewahrt.“
Die Schranken zwischen Konvent und Gemeinde sind verschwunden, bunte Künstlerfenster tauchen Sankt St. Bartholomäus in den milden Dämmer romanischer Kirchen. An Sonnentagen tanzen bunte Farbspiele auf den geweißten Wänden, und das schöne alte Goldkreuz aus dem Kloster Bad Wimpfen funkelt in allen Nuancen des Regenbogens.
Tritt man aus dem Halbdunkel der Kirche hinaus in den Park, umfängt einen die Schönheit dieses Ortes. Ein riesiger Feigenbaum genießt die Wärme der Klostermauer, Orleander blühen in Kübeln und Rosen huldigen der Muttergottes. Der Blick über den Neckar ist schlicht atemberaubend. Ein Kloster des Südens.
Startschuss für einen Himmelsstürmer
Seit dem März 2016 weht ein neuer Wind in der Abtei. Die Bewerbung des Benediktinerpaters Winfried Schwab von Stift Admont in der Steiermark um das Amt des fünften Abts von Stift Neuburg überraschte alle. Hatte man sich doch schon fast damit abgefunden, dass das Kloster aufgegeben wird. Nur mehr elf Mönche leben hier, die meisten sind im Rentenalter. Und plötzlich stand da ein hochgewachsener, eloquenter 51-Jähriger und beteuerte, dass er fest an eine Zukunft für Kloster Neuburg glaube.
„Für mich gibt es keinen Zweifel, dass es gelingt, die Abtei weiterzuführen. Ein Leben nach der Regel des heiligen Benedikt ist ein gelingendes, glückliches Leben, das Freude macht. Das haben Menschen zu allen Zeiten gesucht. Und das suchen sie auch heute.“ Am 12. März 2016 wurde Winfried Schwab geweiht.
Abt Winfried gleicht einem Dynamo. Mit unglaublicher Energie krempelt er das Kloster um, renoviert hier, verändert da, reißt ein dort. Gleichzeitig ist er fast unentwegt auf Reisen, um junge Männer für seinen Konvent zu begeistern. Er tut das auf hohem intellektuellem Niveau. Der Renner ist derzeit sein Vortrag über Benediktinische Personalführung. „Wir sind Himmelsstürmer“, rief der neue Abt nach seiner Benediktion. „Wir stürmen voran und lassen uns nicht davon abhalten, denn unsere Kraftnahrung ist das Gebet.“
Wunderbar geschrieben!
Ich stieß völlig unvermutet nach einer Messe mit dem Altabt Heeremann heute am 9.2.20 hier in Frankfurt auf diesen Artikel.
Stift Neuburg wird dieses Jahr sicher besucht.
Vielen Dank!