Neustadt/Weinstraße: Eigentlich ein Dom

Die gotische Stiftskirche von Neustadt besitzt sogar eine Türmerwohnung.

Vielleicht ist es gar nicht so wichtig, was jemand ist. Vielleicht sollte man lieber fragen, was er sein möchte. Die Stiftskirche zu Neustadt etwa wäre für ihr Leben gern ein Dom. Alle Voraussetzungen dafür erfüllt sie: Zwei gewaltige Türme streben 52 Meter zum Himmel hinauf. Einer sogar mit Türmerwohnung. 

Wundervolle Kreuzrippen überwölben das gotische Langhaus. Und die Fassade zieren fratzenhafte Wasserspeier. Keiner gleicht dem anderen. Dumm nur, dass es in Neustadt nie einen Bischof gegeben hat. Dafür hatte man eine Universität, aber die war calvinistisch. Ein Sprung über den Rhein an die Weinstraße, wo es viel zu entdecken gibt. 

Neustadt ist die jüngere „Schwester“ von Heidelberg: Am Neckar stand das Schloss der Kurfürsten, in der Pfalz war ihre Grablege.

Reben, Reben, nichts als Reben. Und mitten drin: Neustadt. Drei Burgen bewachen den Weinort. Das „Hambacher Schloss“, die Wolfsburg und die Burg Winzingen. Sie haben gute Arbeit geleistet, denn Neustadt wurde nie zerstört. Obwohl das Städtchen exakt in der Schneise liegt, durch die die Franzosen stets in Deutschland eingefallen sind.

Die Neustädter schreiben dieses Wunder der hübschen Winzertochter Kunigunde zu, in die sich ein französische Kriegskommissar einst verliebt hatte.

26 „Neustädte“ gibt es in Deutschland. Unseres heißt eigentlich „Neustadt an der Haardt“, aber „Weinstraße“ klingt verlockender. Zumal wenn man die kleine Schwester von Heidelberg ist. Beide Städte wurden von den Wittelsbachern gegründet. Heidelberg 1196 als die Residenz, Neustadt 1200 als Grablege der Dynastie. Hierfür ließ Kurfürst Ruprecht I., der Vater der Heidelberger Universität, 1356 die gewaltige gotische Stiftskirche errichten. Die Heidelberger Heiliggeistkirche war damals noch ein Kapellchen. Kaum war die Stiftskirche fertig, besetzte Ruprecht sie mit geistlichen Chorherren, die vom Ertrag seiner Güter in der Pfalz lebten. 

Unzählige Schnitzaltäre schmückten einst das gotische Langhaus. Den Chor zierte ein goldener Hochaltar.

Als Patron der neuen Stiftskirche erwählte man den heiligen Ägidius, später übernahm die Gottesmutter. St. Ägidien muss eine phantastische Kirche gewesen sein. Hoch, weit, elegant. Mit dreischiffigem Langhaus, goldenem Hochaltar und riesigem Mönchschor, der komplett ausgemalt war. Unzählige Schnitzaltäre schmückten das Langhaus, das ein prunkvoller Lettner vom Chor schied. Statuen, Bilder und Kerzen schimmerten. Nichts von alldem ist geblieben. 

1562 verordnete Kurfürst Friedrich III. seiner Kurpfalz den calvinistischen Glauben. Die Neustädter Stiftskirche wurde wie im Furor leergeräumt. Die Bilder wanderten auf den Scheiterhaufen, die Fresken wurden übertüncht, das goldene Gerät eingeschmolzen. Am Ende stand nur noch ein Holztisch in der hohen, weiten Kirche.

Pfalzgraf Johann Casimir gefiel das sehr, denn der zweite Sohn von Friedrich III. war radikaler Calvinist. Im Gegensatz zu seinem Bruder Friedrich IV., der in Heidelberg regierte und lutherisch glaubte. Um Streit zu vermeiden übersiedelte Johann Casimir in die Pfalz, die er in eine Hochburg des Calvinismus verwandelte. Mit berühmter Universität. Das „Casimirianum“ steht heute noch. Bildhübsch. Es ist jetzt Gemeindehaus und Museum. 

Eine raumhohe Trennmauer schneidet die Kirche heute in zwei Teile.

Damit könnte die Geschichte eigentlich enden. Doch so friedlich ist das Leben nicht. Die protestantische Linie der Heidelberger Fürsten starb aus. Die katholischen Wittelsbacher aus Düsseldorf übernahmen und starteten sofort die Rekatholisierung. Alle Kirchen wurden zwischen den Konfessionen aufgeteilt.

Wo es nur ein Gotteshaus gab, zog man eine raumhohe Trennmauer ein. So auch in Neustadt. Im Chor der Stiftskirche betet man heute katholisch im alten tridentinischen Ritus. Das Langhaus ist die evangelische Stadtkirche.

Kirchenfakten
NameStiftskirche Unserer Lieben Frau und St. Ägidien
Adresse: Am Marktplatz 2, 67433 Neustadt an der Weinstraße
Konfession: evangelisch/katholisch (tridentinischer Ritus)
Baujahr: 1368-1489
Baustil: Gotik
Kunstschätze: – Türmerwohnung im Südturm (nur mit Führung)
– gotischer Chorbogen mit Fresken und Kanzel
– gotische Schlusssteine im Gewölbe
– gotische Vorhalle
– mittelalterliche Epitaphien
– expressionistisches Himmelfahrts-Mosaik auf der Trennwand
– moderner Abendmahlstisch aus Papier
– barocke Einrichtung und gotisches Chorgestühl im katholischen Teil
Öffnungszeiten: Nach Vereinbarung / katholischer Teil tagsüber geöffnet
Kontakt: Evangelisches Pfarramt Neustadt a.W., Friedrichstraße 42, 67433 Neustadt an der Weinstraße
Telefon: 06321- 84360
E-Mail:  neustadt.stiftskirche.1@evkirchepfalz.de
Internet:  www.stiftskirche-neustadt.de/stiftskirche

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