Sinsheim: Mit der Geborgenheit einer Umarmung

St. Jakobus ist „Brutalismus“ in Perfektion. Halb Raumschiff, halb Gotteshöhle.

Stünde sie frei und mutig auf einem der Hügel im Kraichgau, so wäre die katholische Pfarrkirche von Sinsheim berühmt. Denn St. Jakobus ist „Brutalismus“ in Perfektion. Der Begriff hat nichts mit Gewalt zu tun, sondern leitet sich her vom französischen „Béton brut“ für Sichtbeton. Die 1970er Jahre formten aus ihm futuristische Kirchenskulpturen, halb Raumschiff, halb Gotteshöhle.

In St. Jakobus sind alle Wände gerundet. Sie wechseln vom Kreis zum Oval, umschlingen einander und fließen wieder von einander weg. Kein Zweifel: Diese Kirche ist Avantgarde. Doch leider thront sie nicht auf einem Hügel, sondern sie steht unten in der Stadt zwischen Parkdeck und Grundschule. Ein Ausflug ins Jahr 1967, als Kirchenbau noch Kunst war. 

Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs hat ganz Sinsheim in der Stadtkirche gebetet. Dann kamen die Flüchtlinge.

Sinsheim ist ein kultischer Urort. Die Benediktinerabtei Sunnisheim, die der Stadt ihren Namen gab, war im Mittelalter das bedeutendste Kloster der Region. Es fusste auf einem römischen Tempel, unter dem eine keltische Kultstätte lag.  Heilige Erde. Die erste Kirche unten an der Elsenz wurde um 1450 erbaut. Wie alle Gotteshäuser der Kurpfalz wechselte sie x-Mal die Konfession. Und fast ebenso oft wurde sie zerstört. Der Kraichgau ist Durchgangsland. 

Die Orgelempore ruht auf Betonpilzen, die aus dem Boden emporwachsen.

1782 bauten sich die Sinsheimer ein großes klassizistisches Gotteshaus mitten in der Stadt, das alle Gläubigen gemeinsam nutzten. Eine Scheidemauer trennte die Konfessionen. Das funktionierte, bis der Zweite Weltkrieg eine riesige Welle von Flüchtlingen aus dem Osten an die Elsenz spülte. Die Neuankömmlinge glaubten alle katholisch. Der Chor der Stadtkirche platzte aus allen Nähten. Ein neues Gotteshaus musste her. St. Jakobus. 

Alles in St. Jakobus schwingt. Sogar die Orgel ruht auf Betonpilzen, die aus dem Boden emporwachsen.

Überraschend mutig schlug das Erzbischöfliche Bauamt Professor Reinhard Gieselmann als Architekten vor, und katapultierte Sinsheim damit in die erste Liga der Moderne. „Eine Kirche ist ein Bau höherer Ordnung, der nach vollkommener Schönheit streben muss“, lautete Gieselmanns Grundsatz. 1967 hieß das: Beton pur. Denn kein anderer Werkstoff ist so sensationell formbar. 

Alles schwingt in St. Jakobus. Und die Decke schwebt.

Alles in St. Jakobus schwingt. Die Orgelempore ruht auf Betonpilzen, die ebenso aus dem Boden emporwachsen wie die Kanzel und der Seitenaltar. Die Lampen sind in ein spektakuläres Deckengewölbe integriert, das frei im Raum hängt. Allein um diese schwebende Decke zu installieren, brauchten die Arbeiter sechs Monate. Dafür ist die Akustik jetzt sensationell. „St. Jakobus war ein Abenteuer“, erinnerte sich Gieselmann. „Wir arbeiteten ohne Pläne, nur auf Sicht.“ Bei ihrer Weihe strahlte die Kirche in reinem Weiß. Ein Gotteshaus mit 800 Sitzplätzen, das „die Geborgenheit einer Umarmung“ vermittelt. Fand der Architekt. 

Die Bänke streben sehnsüchtig dem Altar entgegen. Und der runde Chor scheint die Gemeinde umarmen zu wollen.

Das katholische Gotteshaus von Sinsheim wurde noch vor dem II. Vatikanischen Konzil geplant. Aber das merkt man nicht. Weil Sankt Jakobus die Gedanken des Konzils vorwegnimmt: Die Bänke streben sehnsüchtig dem Altar entgegen. Der runde Chor wendet sich der Gemeinde zu, als wolle er sie in die Arme nehmen. Ein „Raumdialog zwischen Gott und Mensch“ (Gieselmann). Im November 1967 wurde die Kirche geweiht. 

Aus der riesigen Eingangshalle ist inzwischen eine intime Kapelle geworden.

Zwanzig Jahre lang beteten Sinsheims Katholiken im puristischen Weiß. 1991 hatten sie genug davon. Statt Klarglas orderten sie starkfarbigen Künstlerfenster. Der Putz erhielt eine Cremenote.

Die Pilzpfeiler im Eingangsbereich verschwanden in einer neuen Kapelle für das böhmische Gnadenbild „Maria Trost zu Brünnl“. Architekt Gieselmann, der damals noch lebte, kommentierte die Verwandlung mit leisem Sarkasmus: „Hat der Raum zuvor eine gelassene Melodie angestimmt, so spielt er nun großes Orchester.“ 

Kirchenfakten
Name: St. Jakobus der Ältere
Adresse:
 Grabengasse 17, 74889 Sinsheim
Konfession: katholisch
Baujahr: 1967
Baustil: Moderne
Kunstschätze: 
– „Der Gnadenstuhl“ : Holzskulptur vom ehemaligen Hochaltar in der Stadtkirche (1951)
– 1991 moderne Künstlerfenster von Raphael Seitz
– moderner Kreuzweg von Raphael Seitz (1991)
– Tabernakel und Taufstein von Erich Hauser (1991)
– Gnadenbild „Maria Trost zu Brünnl“ in der Kapelle (1842)
– Fensterminiaturen mit Szenen aus dem Leben des heiligen Jakob
– Orgel von Hans-Theodor Vleugels (2492 Pfeifen)
– Vier Glocken 
Öffnungszeiten: Zu den Gottesdiensten und nach Vereinbarung
Kontakt: Pfarrbüro Sinsheim, Pfarrstraße 8, 74889 Sinsheim, Telefon: 07261-9149-0, 
E-Mail: pfarramt.sinsheim@se-snh-ang.de 
Internet: www.se-sinsheim-angelbachtal.de

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